Das Altarbild neben dem Seiteneingang

Zu den meisten „normalen“ Gottes­di­en­sten außer­halb beson­derer Festzeiten, betreten die Besucherinnen und Besucher unserer Chris­tuskirche diese nicht durch das Portal, sondern durch die eher unschein­bare Seit­entür linker Hand neben dem Hauptein­gang. Wer den Blick beim Eintritt in den Kirchen­raum scharf nach rechts schweifen lässt, wird an der Wand neben sich ein gerahmtes und groß­for­matiges Bild entdecken, das anscheinend eine biblische Szene zeigt – aber welche? Registriert ist dieses Gemälde lediglich mit „Altar­bild unbekan­nter Herkunft (1702)“ – das verrät uns zwar einer­seits leider nicht eben viel, eröffnet uns aber ander­er­seits die span­nende Möglichkeit, uns an dieser Stelle einmal näher mit der Frage zu beschäftigen, wie man eigentlich ein religiöses Bild „liest“, über das man (zunächst) nur wenig weiß.

In der ersten Stufe einer Bild­analyse – der soge­nan­nten vorikono­grafis­chen Beschrei­bung (nach Erwin Panowsky) – schauen wir uns zunächst an, was auf dem Bild konkret zu sehen ist und wie dieses „zu Sehende“ dargestellt wird, also die soge­nannte Bild­kom­po­si­tion. Der Betra­chter schaut aus der Frontalper­spek­tive auf zwei Personen: Einen Mann auf der linken und eine Frau auf der rechten Seite, die auf Trep­pen­stufen vor einer dritten Person knien, einem weit­eren Mann in einem priester­lich anmu­tenden Gewand mit auffäl­liger Kopf­be­deckung, welcher ein Kind auf dem Arm trägt. Möglicher­weise ist es das Kind des vor ihm knienden Paares, denn die ausgestreckten Arme der Mutter wirken, als habe sie den Säugling gerade erst übergeben. Diese Autoritätsperson wird zu beiden Seiten von zwei älteren und mutmaßlich männlichen Kindern flankiert, die über­große Kerzen in den Händen halten. Hinter der Figuren­gruppe erkennen wir mit Mauer­werk und einem Säulenfuß einige vage Andeu­tungen eines größeren Gebäudes, rechts­seitig sehen wir einen kleinen Land­schaft­sauss­chnitt mit Bäumen, einem Fluss und einer Stadt im Hinter­grund. Die gesamte Darstel­lung ist grund­sät­zlich symmetrisch aufge­baut. Während das Ensemble der knienden Figuren und des Priesters einer Dreieck­skom­po­si­tion folgt (eigentlich ein typis­ches Stilmittel religiöser Malerei der Renais­sance, das hier betra­chtete Werk ist aufgrund des Alters aber eher dem Barock zuzuordnen), ergibt sich durch die beiden Kerzen­träger mit den jeweils nach außen geneigten Kerzen ein weit­eres, umgekehrtes Dreieck. Im Verhältnis zwis­chen Land­schaft und Mauer auf der rechten Bild­seite deuten sich zudem die Propor­tionen des Gold­enen Schnitts (~62/38) an — ganz offenbar haben wir es hier also mit dem Werk eines für seine Zeit hervor­ra­gend ausge­bildeten Künstlers zu tun. 

Die Figuren­gruppe ist nahezu exakt in der Mitte ange­ordnet und lediglich leicht nach links verschoben – womöglich, um auf der rechten Seite mehr Platz für die Angabe der Jahreszahl zu schaffen. Alle Figuren heben sich durch kräftige, kontrastre­iche Farben gut vom eher dunkel gehal­tenen Hinter­grund ab. Die Farbkom­po­si­tion hinter­lässt nicht den Eindruck einer natür­lichen Beleuch­tung, vielmehr wirkt die Figuren­gruppe im Vorder­grund geradezu künstlich ausgeleuchtet, wobei keine hierfür infrage kommenden Lichtquellen (auch nicht die Heili­gen­scheine als sakrale Lichtquellen) zu erkennen sind. Als einziger Text auf dem gesamten Werk sind die Worte „Anno 1702“ rechts neben der knienden Frau auf dem Mauer­werk zu lesen – ganz offenbar das Jahr, in dem dieses Bild fertiggestellt wurde. Die Signatur eines Künstlers ist nirgendwo zu erkennen, die Rahmung ist offen­sichtlich deut­lich jünger und damit ebenso offen­sichtlich nicht mehr im Orig­inal vorhanden. Ein sehr, sehr altes Gemälde also, dessen Betra­ch­tung uns mehr als 300 Jahre in die Vergan­gen­heit entführt und das zu Zeiten entstand, als in Europa der Spanische Erbfol­gekrieg und in den amerikanis­chen Kolonien der zweite Fran­zosen- und Indi­an­erkrieg tobte. 

Aber was genau zeigt es? Mit dieser Frage verlassen wir die vorikono­grafische Beschrei­bung und wenden uns der soge­nan­nten ikono­grafis­chen Betra­ch­tung zu – also der Bestim­mung und Deutung von Motiven und Symbolen im Bild.

In erster Näherung scheint die Annahme sinnvoll zu sein, dass es sich bei dem knienden Paar und dem Kind in der Bild­mitte um die Heilige Familie handelt – Maria, Josef und den neuge­borenen Jesus. Diese Vermu­tung wird durch drei Beobach­tungen gestützt: Die Perso­n­enkon­stel­la­tion (Mann, Frau, Kind) an sich, die Farben der Gewänder der Frau – Maria wurde in früheren Jahrhun­derten meist in den beson­ders kost­baren, da schwer herstell­baren „Königs­farben“ Blau und Rot dargestellt – sowie der Umstand, dass Mann, Frau und Kind einen Nimbus – einen Heili­gen­schein – aufweisen, wobei die drei Heili­gen­scheine sich erkennbar voneinander unter­scheiden (aber dazu später mehr). Auch das auf der rechten Bild­seite über das Kopf­tuch der Frau und die Beklei­dung des – in Erman­gelung eines besseren Wortes – Minis­tranten dominierende Weiß, das Rein­heit, Unschuld und Vollkom­men­heit signal­isiert, spricht für eine Marien­darstel­lung. Das Bild zeigt also vermut­lich die Heilige Familie – aber welche Szene aus dem Neuen Testa­ment ist hier konkret zu sehen? Der Nimbus über der weiß berobten Figur in der Bild­mitte deutet an, dass es sich auch bei dieser Person um jemanden handelt, dem durch den Künstler das Attribut der Heiligkeit zugeschrieben wird – aber um wen?

Den Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels finden wir in dem Korb mit den zwei weißen Tauben, den der von uns vermutete Josef in den Händen trägt. Die Präsenz dieser beiden Tauben verrät uns, dass es sich bei der Szene um die soge­nannte „Darstel­lung des Herren“ (Prae­sen­tatio Jesu in Templo) handelt, ein auss­chließlich beim Evan­ge­listen Lukas zu find­endes Sondergut. Nach Lukas 2, 21–24 begeben sich Maria und Josef nach der in Levi­tikus 12, 2–4 vorgeschriebenen post-natalen „Reini­gungszeit“ von 40 Tagen für die Mutter mit dem bereits beschnit­tenen Jesus in den Tempel, um diesen dort dem Herrn zu präsen­tieren, wie es für alle männlichen Erst­ge­borenen der Brauch war. Als Reini­gung­sopfer (für die Mutter) hätten sie nach Levi­tikus 12, 6–8 dabei eigentlich ein Schaf und eine Taube darbringen müssen – ärmeren Fami­lien war ersatzweise allerd­ings auch ein günstigeres Opfer von zwei Tauben gestattet.

Als acht Tage vorüber waren und das Kind beschnitten werden sollte, gab man ihm den Namen Jesus, den der Engel genannt hatte, bevor das Kind im Mutter­leib empfangen war. Als sich für sie die Tage der vom Gesetz des Mose vorgeschriebenen Reini­gung erfüllt hatten, brachten sie das Kind nach Jerusalem hinauf, um es dem Herrn darzustellen, wie im Gesetz des Herrn geschrieben ist: Jede männliche Erst­ge­burt soll dem Herrn heilig genannt werden. Auch wollten sie ihr Opfer darbringen, wie es das Gesetz des Herrn vorschreibt: ein Paar Turteltauben oder zwei junge Tauben.

Lukas 2, 21–24 (Einheit­süber­set­zung)

Die im Bild zu sehende Über­gabe zweier Tauben durch ein Eltern­paar an eine priester­liche Figur, die von den Eltern zudem ein neuge­borenes Kind präsen­tiert bekommt, verortet die Szene ziem­lich eindeutig in Lukas 2, 21–24 und damit im Jerusalemer Tempel. Das heute (primär vermut­lich aufgrund der rela­tiven Obsku­rität der dargestellten Geschichte) eher ungewöhn­liche Motiv fand sich in früheren Zeiten in vielen Bilderzyklen über das Leben Jesu, wobei die gängige Darstel­lungs­form eigentlich zwei Hand­lungen (das für Maria darge­brachte Reini­gung­sopfer der zwei Tauben und die Darstel­lung Jesu vor dem Priester) miteinander vermischt. Bekan­ntere Wieder­gaben dieser Szene stammen vom ital­ienis­chen Renais­sance­maler Lorenzo Costa dem Älteren (1460–1535) sowie von seinem gut 150 Jahre früher aktiven Lands­mann Ambrogio Loren­zetti (1290–1348). Die Darstel­lung eines Priesters mit fast iden­tis­chem Kopf­schmuck finden wir u.a. beim Spanier Juan Correa (1510–1566). Einige weitere Abbil­dungen dieser Szene aus verschiedenen Epochen – nicht nur Gemälde, sondern u.a. auch Buchze­ich­nungen und Plas­tiken – haben wir in einer Euro­peana-Galerie zusam­mengestellt, der auch die unten­ste­hende Darstel­lung entnommen wurde. Obwohl es sich hierbei nicht um ein Gemälde, sondern um eine (perspek­tivische) Druck­grafik aus dem 16. oder 17. Jahrhun­dert (und damit älter als das in der Chris­tuskirche zu find­ende Werk) handelt, sind die inhaltlichen Schnittmengen (kniende Maria, Taubenopfer, Jesuskind mit Strahlenkranz, auffäl­lige priester­liche Kopf­be­deckung) dennoch unverkennbar. 

Die Darstel­lung des Herrn. Unberkan­nter Künstler. Herzog August Biblio­thek, Deutsch­land. Lizenz: CC BY-SA.

Wenn die Tage ihres Reini­gungszu­s­tands für einen Sohn ebenso wie für eine Tochter vorüber sind, soll sie ein einjähriges Schaf als Bran­dopfer und eine Felsen­taube oder eine Turteltaube als Sündopfer zum Priester an den Eingang des Offen­barungszeltes bringen. Er soll es vor dem HERRN darbringen und für sie Versöh­nung erwirken; so wird sie rein von der entstandenen Blutung. Das ist die Weisung für eine Frau, die einen Knaben oder ein Mädchen gebiert. Wenn sie die Mittel für ein Schaf nicht aufbringen kann, soll sie zwei Turteltauben oder zwei Felsen­tauben nehmen, eine als Bran­dopfer und die andere als Sündopfer; der Priester soll für sie Versöh­nung erwirken und so wird sie rein.

Leviticus 12, 6–8 (Einheit­süber­set­zung)

Auffällig und zumin­dest ad hoc in ihrer Bedeu­tung schwer zu inter­pretieren, ist die Verwen­dung von zwei unter­schiedlichen Nimbus-Typen in einem Bild. Während Josef und der das Neuge­borene begutach­t­ende Priester einen flachen, kreis­för­migen und über dem Haupt schwebenden Heili­gen­schein aufweisen, werden Maria und Jesus mit einem den gesamten Kopf umfassenden Strahlenkranz dargestellt. Die in dieser Differen­zierung höchst­wahrschein­lich verbor­gene Botschaft bleibt am Ende unserer ober­fläch­lichen Betra­ch­tung leider ebenso im Dunkeln, wie schon der Name des Kunstschaf­fenden. Auch für den Wechsel von der ikono­grafis­chen in die ikonol­o­gische Betra­ch­tung (nach Aby Warburg) – also die Deutung eines Gemäldes im historischen und religiösen Kontext seiner Entste­hung – fehlen uns noch wesentliche Infor­ma­tionen. Eine ausführlichere Beschäf­ti­gung mit dem imposanten Altar­bild wird in den kommenden Monaten aber möglicher­weise noch tiefer­ge­hende Einsichten ermöglichen – die Darstel­lung auf dieser Seite wird dann selb­stver­ständlich entsprechend ergänzt.

[Chris­tian Reinboth]

> Zurück zum virtuellen Kirchenrundgang