Am 9. Mai ist es wieder einmal soweit – zum Fest der Himmelfahrt Christi findet der ökumenische Gottesdienst der Wernigeröder Gemeinden nicht in einer der zahlreichen Kirchen Wernigerodes, sondern am Lutherstein und damit am früheren Standort des Augustinerklosters Himmelpforte unter freiem Himmel statt. Eine alte, eine sehr alte Tradition, so wird es berichtet. Wie alt aber ist diese Tradition wirklich? Seit wie vielen Jahren zieht es die Wernigeröderinnen und Wernigeröder zu Christi Himmelfahrt schon an die Himmelpfote?
Auskunft darüber finden wir in einem Kinderbuch, welches im Jahre 1851 hier in Wernigerode verlegt wurde. Es trägt den schönen Titel „Der Gang nach der Himmelpforte: Eine Erzählung für Kinder und Kinderfreunde“ und wurde von Ferdinand Friederich verfasst, der in den 1830er Jahren als Pastor im nahegelegenen Ilsenburg tätig war. Im Jahr 2009 wurde es von der ULB – der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt – digitalisiert und steht seitdem hier – allerdings in altdeutscher Schrift – zum freien Download zur Verfügung.
173 Jahre – das ist schon sehr, sehr lange her. 1851 erschien nicht nur „Moby Dick“ von Herman Melville, sondern auch „Onkel Toms Hütte“ über das Übel der Sklaverei von Harriet Beecher Stowe – ein Roman, den Abraham Lincoln später als einen der Auslöser des Amerikanischen Bürgerkriegs bezeichnen sollte. In Venedig wurde die Oper „Rigoletto“ von Guiseppe Verdi uraufgeführt und in London eröffnete Königin Victoria – nach der dieses Zeitalter später als das „viktorianische“ benannt wurde – im Kristallpalast die erste Weltausstellung überhaupt.
Aber wir schweifen ab. Worum geht es nun in „Der Gang nach der Himmelpforte“ und was verrät uns das Werk heute über die Wernigeröder Tradition des Open Air-Gottesdienstes? Das Buch beschreibt den gemeinsamen Ausflug mehrerer Familien zur Himmelpforte, in dessen Verlauf die beiden Väter – ein Pfarrer und ein Archivar – den Kindern Vorträge über die Geschichte des Augustinerordens und des Klosters Himmelpforte halten. Im ersten Kapitel kündigt einer der Väter seinen drei Kindern diesen Ausflug an – offenbar zu deren großer Freude. Hierzu ein kurzer Auszug aus den Seiten 1 und 2:
„Kaum war das Wort verlautet, so zeigte ein sich erhebendes lautes Frohlocken an, mit welcher Freude die Einwilligung des Vaters nicht bloß von der kleinen Sophie, sondern auch von deren Geschwistern vernommen worden war. Diese hatten bis dahin am Fenster gestanden und mit Sehnsucht den Leuten nachgesehen, welche schon seit einigen Stunden vorüberzogen und von denen sich annehmen ließ, daß sie sämmtlich die Himmelpforte zu ihrem Ziel erwählt hatten. Denn es war heute das Fest der Himmelfahrt Christi, und der Besuch der sogenannten Himmelpforte am Nachmittage dieses Festes war eine altherkömmliche Sitte bei den Bewohnern der guten Stadt Wernigerode. Daß darüber manche den nachmittäglichen Gottesdienst versäumten, war gerade nicht nötig und nicht löblich, denn die Himmelpforte lag so nahe bei der Stadt, daß zu ihrem Besuche auch noch nach der Kirche Zeit genug übrig blieb.“
Ferdinand Friederich: Der Gang nach der Himmelpforte (1851)
Wir merken also: Die Wanderung zur Himmelpforte an Christi Himmelfahrt, war schon 1851 Tradition – die Feier des Gottesdienstes dort jedoch nicht. Und auch wenn uns das Buch viel über den Alltag der Augustinermönche, das Leben des bekanntesten Mönchs der Himmelpforte – des Theologen und späteren Priors und Ordensprovinzials Andres Proles – den Lutherbesuch in Wernigerode und die Reformation verrät, so erfahren wir doch kaum etwas über die Tradition des Himmelfahrts-Ausflugs. Zwar wird auf Seite 38 gemutmaßt, dass diese Sitte daher rühren könnte, dass Papst Nicolaus IV. im Jahre 1289 einen Generalablass für alle Gläubigen verkündete, die zu Mariä Himmelfahrt – nicht Christi Himmelfahrt – eine Augustinerkirche besuchen und dass dieser Brauch sich später auf das „andere“ Himmelfahrtsfest übertragen haben könnte – der Autor weist aber ausdrücklich darauf hin, dass es sich hierbei lediglich um eine Spekulation handelt.
Auch die Vorläuferkirche unserer Christuskirche findet in dem Buch übrigens Erwähnung – auf Seite 55 berichtet der Archivar auf dem Rückweg zum Westerntor kurz dies über die Geschichte Hasserodes:
„Die noch übrige Strecke der Wanderung hinter dem Flecken Hasserode-Friedrichsthal das Thal entlang bis zur Stadt verkürzte der Archivarius dadurch, daß er erzählte, wie nach dem Aussterben des Geschlechtes der Herren von Hasserode die Stammburg derselben mit ihrem Gebiete den Lehnsherren, den Grafen von Wernigerode anheimfiel, wie der letzte von diesen sie anfangs der Stadt Wernigerode verpfändete, dann als Lehn überließ, wie von ihr jedoch zur Zeit der Reformation dieses Besitzthum vernachlässigt, die Pfarrkirche des alten Hasserode eingezogen und der Nikolai-Pfarre zu Wernigerode einverleibt wurde; wie späterhin die Burg zu Hasserode der Sitz eines Königl. Preuß. Amtes ward und wie dies dann zu der Stiftung eines reformieren Gottesdienstes, einer Kirche und dann selbst zu der Anlage der Colonie Friedrichsthal die Veranlassung hergab.“
Ferdinand Friederich: Der Gang nach der Himmelpforte (1851)
Bei der hier erwähnten Pfarrkirche des alten Hasserode handelt es sich um die nach dem Apostel Andreas benannte erste (katholische) Kirche in Hasserode, die bereits im 13. Jahrhundert erbaut wurde, die aber keine Verbindung zu unserer heutigen Christusgemeinde hat. Wo aber von der „Stiftung eines reformierten (evangelischen) Gottesdienstes“ und der dazugehörigen Kirche die Rede ist, ist die erste (erbaut 1778), vermutlich aber auch schon die zweite Konkordienkirche – die heutige Christuskita – gemeint, die im Jahre 1847 eingeweiht wurde und damit schon vier Jahre existierte, als Pastor Friedrich sein Buch über den Ausflug zur Himmelpforte schrieb.
Schon lange wird also das Himmelfahrtsfest an der Himmelpforte begangen – wenn auch nicht immer in Form eines Gottesdienstes. Auch in diesem Jahr freuen wir uns daher wieder sehr über alle Wernigeröderinnen und Wernigerode, die diese Tradition weiterleben lassen und sich mit uns am Lutherstein treffen.